Die Anstalt by John Katzenbach

Die Anstalt by John Katzenbach

Autor:John Katzenbach [Katzenbach, John]
Die sprache: deu
Format: epub, mobi
Herausgeber: Knaur eBook
veröffentlicht: 2006-09-27T22:00:00+00:00


18

Noch am selben Tag, vielleicht aber auch erst ein, zwei Tage später, auf jeden Fall aber noch während die endlose Reihe Geisteskranker in Lucys Büro aufmarschierte, wurde mir auf einmal bewusst, dass ich noch nie so richtig ein Teil von etwas gewesen war.

Als ich darüber nachdachte, stellte ich fest, dass es eine merkwürdige Sache war, aufzuwachsen und nach und nach am Rande mitzubekommen und vielleicht irgendwie zu begreifen, dass um einen herum alle möglichen Beziehungen geknüpft wurden und man selber für immer davon ausgeschlossen war. Für ein Kind ist es etwas Schreckliches, nicht dabei zu sein. Vielleicht das Schlimmste überhaupt.

Einmal wohnte ich in einer typischen Vorstadtstraße: eine Menge ein- und zweistöckige, weiß gestrichene, gutbürgerliche Häuser mit gepflegten grünen Vorgärten und vielleicht ein, zwei Staudenbeeten unter den Fenstern und einem Schwimmbecken hinter dem Haus. Der Schulbus kam zweimal zu unserem Block, um alle Kinder aufzunehmen. Am Nachmittag herrschte auf der Straße ein ständiges Kommen und Gehen, unablässiges Kindergeschrei. Unter der Woche kamen Jungen und Mädchen mit Jeans, die an den Knien ausgefranst waren, während dieselben Kinder sonntags wie aus dem Ei gepellt erschienen – die Jungen im blauen Blazer und in steif gestärkten weißen Hemd mit Polyesterkrawatte und die Mädchen in rüschenbesetzten Kleidern. Dann verteilten wir uns alle mit unseren Eltern auf den Bänken der einen oder anderen benachbarten Kirche. Es war die für das westliche Massachusetts typische, mehrheitlich katholische Mischung, die sich die Zeit nahm, darüber zu diskutieren, ob es Sünde war, am Freitag Fleisch zu essen. Dazu eine Hand voll Episkopale und Baptisten und sogar ein paar jüdische Familien, die jedoch zur Synagoge ans andere Ende der Stadt fahren mussten.

Es war alles so erstaunlich, überwältigend, unendlich typisch. Typischer Block in einer typischen Straße, bewohnt von typischen Familien, die die Demokraten wählten und ein bisschen für die Kennedys schwärmten und an warmen Frühlingsabenden zu Kinderligaspielen gingen, weniger, um zuzusehen, als um zu plaudern. Typische Träume. Typische Ambitionen. In jeder Hinsicht typisch, von den ersten Morgenstunden bis in den späten Abend hinein. Typische Ängste, typische Interessen. Gespräche, die sich an die Normalität wie an einen roten Faden hielten. Selbst typische Geheimnisse hinter den typischen Fassaden. Ein Alkoholiker. Ein Mann, der seine Frau verprügelte. Ein heimlicher Homosexueller.

Alles typisch, die ganze Zeit.

Außer mir natürlich.

Über mich wurde hinter vorgehaltener Hand diskutiert, im selben Flüsterton, der gewöhnlich einer wirklich schockierenden Nachricht vorbehalten war, etwa, dass zwei Straßen weiter eine schwarze Familie eingezogen war oder dass der Bürgermeister mit einer Frau, die ganz gewiss nicht seine Ehefrau war, beim Verlassen eines Motels gesehen worden war.

In all den Jahren wurde ich nicht mal zu einer einzigen Geburtstagsfeier eingeladen. Niemals zu einem Übernachtungsbesuch. Nicht ein einziges Mal zu einer spontanen Fahrt zu einem Eisbecher bei Friendly’s auf den Rücksitz eines Kombis geschoben. Ich habe keinen einzigen spätabendlichen Anruf bekommen, um über die Schule oder Sport oder darüber zu klatschen, wer nach dem Tanzabend der siebten Klasse wen geküsst hatte. Ich habe nie in einem Team gespielt oder in einem Chor gesungen und bin nie in einer Kapelle mitmarschiert.



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